Erfüllter leben


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Kleines Plädoyer für ein gelassenes Zukunftsdenken

von Ulrich Grober

 I.
Zwei Beobachtungen, den „Zeitgeist“ betreffend: „Gelassenheit“ rückt auf der Skala unserer Werte und Sehnsüchte seit einiger Zeit unaufhaltsam nach oben. Zur Jahreswende 2014/15 soll sie laut Medienberichten schon den Spitzenplatz der guten Wünsche und Vorsätze erobert haben.

Die andere Beobachtung: Die „große Transformation“ stellt sich momentan als eine Vielzahl von „Wenden“ dar: Energiewende, Agrarwende, Ressourcenwende, Forschungswende etc. Jede einzelne Wende erscheint als ein Kraftakt,  der den Akteuren fast Menschenunmögliches abverlangt.

Doch ist Nachhaltigkeit tatsächlich primär eine Kultur des „Machens“, des Andersmachens und Neumachens? Oder nicht primär eine „Kultur des Lassens“? In allen Variationen: loslassen, zulassen, belassen, sich auf die Dinge, ihre Zyklen und Rhythmen einlassen. Müll vermeiden beispielsweise ist besser als ihn noch so effizient entsorgen. Energie einsparen ist allemal besser als alternativ erzeugen. Dinge auslaufen lassen, als Auslaufmodell ansehen, besser als sie abreißen. Natur Natur sein lassen – Prozessschutz – ist das neue Paradigma im Umgang mit Wildnis. Was aber wäre Prozessschutz im „nachhaltigen“ Umgang mit unseren mentalen Ressourcen? Spätestens an diesem Punkt, so scheint mir, rückt Gelassenheit in den Horizont von Nachhaltigkeit.

II.
Die Suche nach dem Urtext – und der Essenz - von „Gelassenheit“ führt zurück in die Zeit der gotischen Kathedralen und der deutschen Mystik. Formuliert hat ihn der thüringische Theologe und Philosoph Meister Eckhart. Bei einem Gang durch die Erfurter Predigerkirche kommt man dem „genius loci“ ganz nahe. Dort predigte er um 1300 den Novizen seines Ordens, also jungen Menschen! -  von der gelâzenheit.

Eckhart kannte sehr wohl die Tradition des Konzepts in der stoischen Philosophie der Antike: Den griechischen Begriff ataraxía (Nicht-Beunruhigbarkeit, Unerschütterlichkeit), die lateinischen Varianten tranquillitas animi (Seelenruhe) undserenitas (heitere Ruhe). Auch für ihn ist ruowe ein hohes Gut. Doch für seine spezifischen Zwecke greift er auf das Matthäus-Evangelium zurück, auf die Erzählung von der Berufung der ersten Jünger: „Omnia relinquere“  - alle dinc lâzen - alles zurücklassen, um Jesus zu folgen. Hier sind wir an der  Quelle. Das ist die Blaupause unseres säkularisierten, modernen deutschen Begriffs.

In den Fokus rückt damit eine doppelte Bewegung: Alles loslassen können (das Materielle, das Weltliche, das Gewohnte), um sich auf etwas Neues einlassen können (das Immaterielle, das Göttliche, den Sinn). Die Abkoppelung erst schafft Raum, ja sie ist die Voraussetzung für neue Ankoppelungen. Damit ist der Gegensatz von „Gelassenheit“ und „Entschlossenheit“ (Hingabe, Engagement) hinfällig. Gelassenheit ist keine Form von Gemütlichkeit oder Wellness.

III.
In die Sprache der Gegenwart übertragen: „In der Ruhe liegt die Kraft“ und „Geht nicht, gibt’s nicht“. Zwei Weisheiten, die aus der Umgangssprache der Industriearbeiter in die Ideenschmieden der Werbebranche gewandert sind. Beide Sprüche sind komplementär. Ruhe und Dynamik ergänzen sich zu einer Grundhaltung des gelassenen Optimismus. Man kann sie auch mit dem  Terminus „Resilienz“ umschreiben. Was wäre ein dem angemessenes Zukunftsdenken?

„Vor der Hacke isses duster“. Noch eine Weisheit, diesmal aus der – fast verschwundenen - Arbeitswelt der Bergleute. Sie will sagen: Die Zukunft ist prinzipiell offen. Wie es ausgeht, weiß man nicht. Prognosen sind schwarze Kunst. Sie sind Narrative. Meist handelt es sich um lineare Fortschreibungen der jeweils jüngsten Trends. Doch die Grenzen zwischen „Wunschdenken“ und „realistischem“ Denken, zu dem es angeblich „keine Alternative“ gibt, sind fließend. Ist ein kontinuierliches Wachstum realistisch oder bloßes Wunschdenken? Kapitalistischer Realismus. Ist das dynamische Gleichgewicht einer Postwachstumsgesellschaft „idealistisches“ Wunschdenken von Gutmenschen und Träumern? Oder nicht doch die realistischere Zukunftsvision.

IV.
In den letzten Jahrzehnten – in unserer Generation -  hat weltweit die Rede über unsere Rechte und Freiheiten dominiert. Dieser Diskurs wurde sehr stark kolonisiert und zugerichtet. Das Recht und die Freiheit, zu konsumieren, rückte immer stärker in das Zentrum. Unter Globalisierung verstand man vor allem als das Recht und die Freiheit, überall auf der Welt Geld zu verdienen: Let's make money.

Nachhaltigkeit dagegen ist primär ein Diskurs über unsere Verantwortung und Pflichten. Das macht die Idee so sperrig, die große Transformation, den Durchbruch zu genuin nachhaltigen Mustern so schwierig, ja läßt ihn momentan als hoffnungslos utopisch erscheinen.

Was tun? „Durch Auferlegung einer allzugroßen – oder vielmehr – aller Verantwortung erdrückst du dich“ (Franz Kafka). Wie wäre es, wenn man auch die Verantwortung auf ein „menschliches Maß“ reduziert. Niemand ist berufen, die „Welt zu retten“. Was jedoch jeder tun kann: „Keep the options open“, die „Optionen offen halten“ (Brundtland- Bericht)  Und: Think globally, act locally! Im Bewusstsein der globalen Herausforderungen im eigenen Umfeld, in den Nahräumen etwas kreieren und weitergeben, damit „das gute Leben“ weitergehen kann und auf lange Sicht möglich sein wird. Gelassen und entschlossen.

V.
„Die Gegenwart ist aufgeladen mit Vergangenheit – und geht schwanger mit der Zukunft.“ (Leibniz). Einen achtsamen Blick auf das richten, was geschieht, und dann das, was davon    wünschenswerte Zukunft enthält, begleiten, fördern, zum Durchbruch verhelfen -  ein solches Handeln wäre mit der Haltung der Gelassenheit kompatibel. „Leading from the emerging future“ nennt das der amerikanische Zukunftsforscher Otto Scharmer. Um es mit einer alten, in vielen Kulturen der Welt verbreiteten Metapher auszudrücken: Die schimmernde Perle wächst in der harten, schwarzen, rauen Schale der Muschel heran. Wir wären gut beraten, unsere Aufmerksamkeit auf das Wachstum der Perle zu richten.

September 2015